Die kleine Schweiz, ein « Krebsschaden » in Europa?

Die Schweiz gilt heutzutage politisch, wie auch wirtschaftlich als global vernetzter Vorzeigestaat. Das war aber nicht immer so.

Vor 1848 hatten Stimmen im umliegenden Ausland wenig schmeichelnde Worte für das kleine Alpenland übrig. Als «Krebsschaden» und «cloaca magna von Europa» wurde es in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts bezeichnet. Schuld daran sei «die politische Verkammerung des Landes» gewesen, welche die politische Stabilität, die Umsetzung nationaler Projekte und somit auch Innovation in der Wirtschaft gehemmt habe, erklärt der Historiker Joseph Jung in seinem Buch «Das Laboratorium des Fortschritts – die Schweiz im 19. Jahrhundert». Die Entstehung der ersten Schweizer Bundesverfassung war dementsprechend auch von ökonomischen Interessen geprägt, erhoffte man sich davon doch bessere wirtschaftliche Rahmenbedingungen. Und tatsächlich wurde die Schweiz schon wenige Jahrzehnte nach Gründung des Bundesstaates im nahen Ausland als einer der «grössten Industriestaaten der Welt» bezeichnet. Doch woran lag das?

Als Wendepunkt kann man das Jahr 1848 und die Verabschiedung der Bundesverfassung sehen. Die Verfassung führte nämlich diverse wirtschaftliche Neuerungen ein, durch die sich in den Folgejahren ein Schweizer Binnenmarkt entwickeln konnte:

  • Handels- und Gewerbefreiheit zwischen den Kantonen;
  • Abschaffung der Binnenzölle, Aussenzölle lagen nun in der Verantwortung des Bundes;
  • Landesweite Niederlassungsfreiheit (für Christen);
  • Vereinheitlichung der verwendeten Gewichte und Masse;
  • Verstaatlichung des Postwesens;
  • Oberaufsicht des Bundes über Strassen und Brücken an deren Erhaltung er ein Interesse hatte;
  • Münzhoheit des Bundes, Franken ab 1850 als Einheitswährung.

Die Verfassung beeinflusste den wirtschaftlichen Wandel des Landes aber auch über einige Umwege, entscheidend dafür war vor allem das Aufkommen der Eisenbahn, der die Verfassung den Boden bereitete. 

Faksimile der Schweizer Bundesverfassung von 1848
Faksimile der Schweizer Bundesverfassung von 1848

Die Eisenbahn fasst endlich Fuss

Die Eisenbahn etablierte sich aus gesamteuropäischer Sicht erst sehr spät in der Schweiz. Bei der Gründung des Bundesstaats 1848 existierte mit der «Spanisch-Brötli-Bahn» nur eine einzige ausschliesslich auf Schweizer Boden gebaute Strecke. In der Verfassungskommission konstatierte 1848 denn auch ein Mitglied: «Wenn die Eisenbahnen bis an die Gränze (sic!) der Schweiz geführt sein werden, wenn die Eidgenossenschaft dem Transite diejenigen Erleichterungen gewähre, welche zur Frequenz ihrer Kommunikationsmittel einladen können, - dann erst werde ein Verkehr von grösserer Bedeutung entstehen». Und das sollte schneller wahr werden als gedacht.
Das Eisenbahnwesen war zwar nicht Sache des Bundes – Bau, Betrieb und Konzessionsvergabe lag bei den Kantonen – aber mit der Verabschiedung des Enteignungs- und des Eisenbahngesetzes (1850 & 1852) verlieh er diesem einen grossen Schub. Das deuten die Wachstumszahlen des Eisenbahnnetzes an. Von 25 Kilometer 1847 vervielfachte sich die Länge der Normalspurstrecken in der Schweiz nur schon bis 1860 auf 1053 Kilometer. 

Plakat zur Gründung der SBB von Fritz Boscovits, 1898
Plakat zur Gründung der SBB von Fritz Boscovits, 1898

Mehr Schienen, mehr Käse

Der Ausbau des Eisenbahnnetzes brachte nicht nur Modernisierungsschübe im Tourismus, dem Bankwesen und den Versicherungen mit sich. Auch die Landwirtschaft wurde von dieser Entwicklung erfasst und erlebte eine fundamentale Transformation. Dank den neuen, deutlich schnelleren Transportmitteln und dem Anschluss an das europäische Eisenbahnnetz, ging nämlich der sogenannte «Entfernungsschutz» vieler Landwirtschaftsprodukte verloren. Nun konnten Produkte wie Getreide, die in Osteuropa besser wuchsen und deutlich billiger waren, im grossen Stil in die Schweiz importiert werden. Gepaart mit allgemein sinkenden Getreidepreisen wurde die nicht mehr wettbewerbsfähige einheimische Produktion spätestens ab 1860 zunehmend verdrängt. Stattdessen mauserte sich die Vieh- und Milchwirtschaft im Voralpengebiet mehr und mehr zum zentralen Produktionszweig und Käsereien verbreiteten sich nun auch im Flachland. Wie schnell dieser Prozess vonstattenging verdeutlichte der Statistiker Stefano Franscini mit einer Schätzung. Anno 1846 hätte die inländische Getreideproduktion die Bevölkerung noch ganze 290-295 Tage mit Brot versorgen können. Keine 20 Jahre später reichte der hypothetische Brotvorrat laut Franscini jedoch nur noch 220 Tage aus.

Von der Kloake zum Klassenprimus

Kommen wir noch einmal auf die Verfassung zurück. Der politische Wandel, den die Schweiz im 19. Jahrhundert durchmachte, war eng verzahnt mit wirtschaftlichen Interessen. Die Gründung des Bundesstaats war aber nicht nur in Teilen wirtschaftlich motiviert, sondern stiess ihrerseits weitreichende wirtschaftliche Umwälzungen an. Deshalb ist es nicht zuletzt der Bundesverfassung zu verdanken, dass aus der «grossen Kloake Europas» in rasantem Tempo die Vorzeigeschweiz von heute wurde.

Quellen:

Bretscher, P. (2007). «Landwirtschaftliche Geräte V: Getreidebau I», in: Merkblätter des Bundesamtes für Bevölkerungsschutz, Kulturgüterschutz, Bundesamt für Bevölkerungsschutz

Bundesverfassung der Schweizerischen Eidgenossenschaft vom 12. September 1848 (SR 101), Online: https://www.verfassungen.ch/verf48-i.htm , zuletzt konsultiert am 9.05.2023.

Historische Statistik der Schweiz HSSO (2012). Tab. N.4. «Normalspur-, Schmalspur-, Zahnrad-, Drahtseil- und Strassenbahnen: Anzahl Bauunternehmungen, Baulängen der Bahnlinien und elektrifizierte Strecken 1844-1945». Online: https://hsso.ch/2012/n/4

Jung, J. (2019). «Das Laboratorium des Fortschritts – die Schweiz im 19. Jahrhundert». NZZ Libro, Zürich

Mattmüller, M., Baumann, W. & Moser, P. (2006). "Getreidebau", in: Historisches Lexikon der Schweiz (HLS), Version vom 11.12.2006. Online: https://hls-dhs-dss.ch/de/articles/013936/2006-12-11/ , zuletzt konsultiert am 01.06.2023.

Revisionskommission (1848). Protokoll «Verkehr im Innern und nach Aussen», S. 50 ff.

Rossfeld, R. (2010). «Handwerk, Gewerbe und Industrie – Die schweizerische Binnenwirtschaft im 19. und 20. Jahrhundert», in: Traverse. Zeitschrift für Geschichte, Wirtschaftsgeschichte in der Schweiz – eine historiografische Skizze, 17 (2010), S. 75-102

Spielmann, B. (2019). «Im Übrigen ging man zu Fuss – Alltagsmobilität in der Schweiz von 1848 bis 1939», LIBRUM Publishers & Editors LLC, Basel/Frankfurt am Main

Boscovits, Friedrich: Gründung der SBB (Bild) auf Wikipedia https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Gruendung_der_SBB,_Plakat.jpg, online konsultiert am 6.10.2023