Die Schweiz vor 1848, 1853, 1850, 1848, 1847. Ich steige aus der Zeitmaschine aus und schaue mich in der Schweiz um.

Die Schweiz vor 1848
Die Schweiz vor 1848

Wie jung die Menschen sind! Bei Geburt beträgt ihre Lebenserwartung weniger als 40 Jahre. Nur 2,4 Millionen Einwohnerinnen und Einwohner verteilen sich über die Schweiz. Sie leben vor allem auf dem Land. Seit einiger Zeit nimmt die Bevölkerung stark zu: Die Menschen heiraten früher, denn sie können nun besser Geld in der Schweiz verdienen, statt fern von der Heimat Arbeit suchen zu müssen.

Ein bisschen Tourismus gibt es zwar, aber Ausländerinnen und Ausländer leben fast keine in der Schweiz. Den meisten Leuten sind jedoch schon die Regionen ennet der Kantonsgrenze recht fremd: Einfach so in einen anderen Kanton ziehen und dort arbeiten, das geht nicht. Jeder Kanton ist eigentlich ein ganz kleines Land für sich und verbittet sich jegliche Einmischung von aussen.

Was gibt es zu essen? Dass es genug zu essen gibt, ist nicht selbstverständlich. Für die Ernährung gibt eine Arbeiterfamilie mehr als die Hälfte ihres Budgets aus. Sie kauft Brot und Kaffee – meist nur Kaffee-Ersatz –, Fleisch, Milch und Kartoffeln. Die Kartoffel hat sich ja erst vor Kurzem als Grundnahrungsmittel in Europa etabliert. Jetzt hilft sie, die wachsende Bevölkerung satt zu machen. Doch bei Missernten droht der Hunger zurückzukehren …

Mehr als die Hälfte der Menschen ist in der Landwirtschaft erwerbstätig, nur knapp ein Drittel in Industrie und Gewerbe. Von diesem Drittel arbeiten nicht weniger als 75 Prozent zuhause statt in der Fabrik. Heimarbeit ist insbesondere das tragende Element in der wichtigsten Exportbranche, der Textilindustrie – Textilien machen drei Viertel aller Ausfuhren der Schweiz aus. Die Arbeitskräfte bekommen Rohstoffe (Baumwolle, Seide) oder Zwischenprodukte (Garn, Tuche) nachhause geliefert und veredeln diese gegen Stücklohn. Stottert die Konjunktur, gibt es sofort weniger Aufträge und weniger Geld.

Die Mechanisierung schreitet aber rasant voran. In den Baumwollspinnereien schuften viele Frauen und Kinder an den Maschinen, und das für einen Hungerlohn. Manche Kinder sind nicht einmal zehn Jahre alt! Die Luft ist schlecht, die Arbeit an den Maschinen gefährlich. Der Arbeitstag ist bis zu 16 Stunden lang – kein Wunder, dass viele Kinder nicht zur Schule gehen!

Dabei sind unentgeltliche Volksschulen bereits weit verbreitet. Gerade in liberalen Kantonen wird Bildung als Teil der wirtschaftlichen Modernisierung gesehen. Dort gibt es nun auch direkte Wahlen und Gewaltenteilung. Ausserdem können mehr Männer als vorher abstimmen und wählen gehen. An einigen Orten wurde sogar die Pressefreiheit eingeführt … Ganz Europa blickt argwöhnisch auf solche unerhörten Machenschaften.
Liberalen Kantonen stehen katholisch-konservative gegenüber. Hier ist das Tempo des wirtschaftlichen und sozialen Wandels tiefer, während traditionelle Strukturen hochgehalten werden. Dabei spielt die katholische Kirche weiterhin eine bedeutende Rolle. Über diesen Umstand und den Weg in die Zukunft entbrennt ein immer heftigerer Streit zwischen Liberalen und Konservativen: Fortschritt oder Stillstand? Kontinuität oder Revolution?

Bei allen unterschiedlichen Ansichten sind die Menschen zwischen Bodensee und Genfersee Schweizerinnen und Schweizer. Mit der Postkutsche gelangt man auf einem immer besser ausgebauten Strassennetz von Stadt zu Stadt. Für Abenteuerlustige gibt es neu auch das Dampfross: Seit 1844 verbindet die Eisenbahn Basel und Strassburg, seit 1847 Baden und Zürich.

Und all die Menschen, die nicht nur eine Reise unternehmen wollen, sondern ganz aus der Schweiz wegmüssen? Weil sie in bitterer Armut leben und keine Arbeit haben? Weil sie von Missernten und Konjunktureinbrüchen schwer geschlagen werden? Bis zum Ende des Jahrhunderts ist die Schweiz ein Auswanderungsland – die wenigsten sind auf Rosen gebettet.

Mit diesen Eindrücken von der Zeit, bevor die Schweiz zum Bundesstaat wird und sich – bei aller Uneinigkeit geeint – auf den Weg in die Zukunft macht, wandere ich gottlob nicht aus, sondern zur Zeitmaschine zurück. Meine Träume werden in der Gegenwart gebraucht! 1848, 1850, 1875, 1900, 1950, 2000 …