Das Geschlecht galt 1848 für das politische
Partizipationsrecht als ausschlaggebend», stellt die emeritierte Professorin der Universität Bern Brigitte Studer
fest. Wie die Französinnen in Frankreich von 1789 wurden Schweizer Frauen von
jeglicher Teilhabe am öffentlichen Leben ausgeschlossen, betont die
Historikerin in einem Gespräch mit den Parlamentsdiensten.
PD:
Haben die Autoren der ersten Bundesverfassung von 1848 die Frauen wörtlich von
politischen Rechten ausgeschlossen?
BS: Nein, die
Autoren der
Bundescharta haben den weiblichen Ausschluss aus den politischen Rechten gar
nicht zum Thema gemacht. Wie die Autoren der helvetischen Verfassung von 1798
oder jene der liberalen Kantonsverfassungen des 19. Jahrhunderts haben sie ihn
auch nicht explizit festgeschrieben.
Die Französische
Revolution benötigte vier Jahre, bevor sie die Frauenclubs schloss und die
Frauen aus der neu konstituierten öffentlichen Sphäre verbannte. Ihrerseits
erledigten die eidgenössischen Verfassungsgeber dies 1848 still und diskussionslos.
Sie etablierten ein universelles Männerstimmrecht, das allen Schweizer Männern
auf dem ganzen Territorium (nicht nur Kantonsbürgern) politische Rechte
garantierte. Dies begründete während 123 Jahren den Schweizer Stolz, die
Eidgenossen hätten die «älteste Demokratie der Welt» geschaffen. Eine
Demokratie, die mit anderen vermeintlich inkommensurabel war, die von den
jungen Demokratien im Ausland keine Lehren zu erhalten hatte.
Was steckte hinter dem “virilen
Bundestaat”?
In der Schweiz, meinten einmal die beiden
Historiker:innen Brigitte Schnegg und Christian Simon, waren zur Zeit der
Helvetischen Republik die grossen Kämpfe der Frauen bereits stellvertretend in
Frankreich entschieden worden: die Männer waren gewarnt. Die entstehende bürgerliche
Gesellschaft distanzierte sich von der in ihren Augen verweichlichten
aristokratischen Gesellschaftsordnung und ihren geschlechtergemischten
Geselligkeitsformen, wie sie in der Schweiz auch die urbanen patrizischen
Oberschichten in Bern, Neuenburg, Genf und Lausanne pflegten.
Die schweizerische Aufklärung, angeführt vom Zürcher Kreis um Johann Jakob Bodmer, orientierte sich an den alten Schweizer Tugenden: Wehrhaftigkeit, Sparsamkeit, Sittenstrenge. Sie wurden von Émile Rousseau idealisiert und auch von den französischen Republikanern zum Vorbild gemacht. Weiblichkeit galt als Gegensatz der Vernunft, die wie die Politik eine Männersache war.
Wollte
Rousseau keine geschlechtergemischte Gesellschaft?
Nein, die Frauen
hatten im Haus zu wirken, da konnten sie als Gattin und Mutter schalten und
walten. Die Vertretung gegen aussen in der als arbeitsteilige
wirtschaftliche Einheit funktionierenden Familie fiel hingegen dem Mann zu. Er
verkörperte das bürgerliche Rechtssubjekt.
Nicht nur in der Schweiz war die Geschlechterdifferenz für die Formation der neuen politischen Öffentlichkeit im Liberalismus konstitutiv. Die Evokation der «Weiberherrschaft» des Ancien Regime mit seinen «Salonnières» diente in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts als abschreckendes Signum der Arkanpolitik der alten Eliten. Rousseaus republikanisches Gegenmodell setzte dagegen auf Virilität und propagierte in der neuen bürgerlichen Ära eine rigide Trennung von Öffentlichkeit und Privatheit und eine ebenso rigide Geschlechtertrennung in Staat und Öffentlichkeit, um einen Rückfall in die alten gesellschaftlichen Verhältnisse zu verhindern. Frauen sollten weder formell im Parlament noch informell über die Familie Einfluss auf die Politik nehmen.
War die paritätische Vorstellung der Gesellschaft von
Condorcet schon Makulatur?
Die politische Vertretung kam dem Familienhaupt zu,
und dieses war männlich. Diese
Gesellschaftsorganisation entspricht der Natur der Geschlechter, erklärten die
Theoretiker des Ausschlusses der Frauen in einem kaum enden wollenden
Redeschwall juristischer, philosophischer, literarischer und medizinischer
Stellungnahmen und Schriften. Das ganze 19. Jahrhundert und fast das
ganze 20. Jahrhundert bemühten sie sich, diese Vorstellung zu legitimieren. Damit die Sache klar war, beschied
der berühmte Schweizer Staatsrechtler Johann
Caspar Bluntschli 1852 kurz nach der Einführung des universellen
Männerstimmrechts: «Der Staat ist entschieden männlichen Charakters».
Im Endeffekt wurde ein soziales Konstrukt – die polarisierte bürgerliche Geschlechterordnung – naturalisiert. Dabei schrieben diese Theoretiker nicht nur gegen die seit der Aufklärung ertönenden feministischen Stimmen an, etwa einer Mary Wollstonecraft, sondern auch gegen einzelne Vertreter ihres eigenen Geschlechts, wie etwa ein Condorcet, die sich zum Prinzip der Gleichheit aller Menschen bekannten und die politische Rechtlosigkeit von Frauen aufgrund einer wie auch immer verstandenen biologischen Differenz ablehnten.
Hat die Bundesverfassung
die kantonalen, kommunalen oder bürgerlichen Gesetzgebungen in Bezug auf
Frauenrechte zurückgeworfen? Ich denke zum Beispiel an das Berner
Gemeindegesetz von1833, das Grund besitzenden Frauen Mitbestimmung in der
Gemeindeversammlung gewährte.
Das lässt sich so generell nicht behaupten. Auch
Frauen haben von der Aufhebung ständischer Privilegien respektive
Diskriminierungen profitiert. Andererseits etablierte sich mit der modernen
Bundesverfassung der strikte und langdauernde weibliche Ausschluss aus den
politischen Rechten. Ohne dass dies im Bundesverfassungstext explizit
festgeschrieben worden wäre.
Die Politisierung von Geschlecht als Differenzkategorie geschah deutlicher im Rahmen des Zivilrechts. Trotz etlicher Eingaben und Anträge von Frauen- wie von Männerseite standen Frauen in vielen Kantonen fast bis gegen Ende des 19. Jahrhunderts unter männlicher Vormundschaft. Erst mit dem Bundesgesetz betreffend die persönliche Handlungsfähigkeit wurde 1881 für die ledigen und verwitweten Frauen die Geschlechtsvormundschaft aufgehoben. Die verheirateten Frauen blieben hingegen der ehemännlichen Vormundschaft unterworfen, ein Status, der mit dem Zivilgesetzbuch von 1912 nur umbenannt, keineswegs beseitigt wurde und bis 1988 fortbestand. Das Sozialrecht wiederum «familialisierte» die Frauen, sie sollten möglichst zuhause bleiben. In der «longue durée» zeigt sich aber, dass das Gleichheitsversprechen von 1848 auch den Frauen die Möglichkeit ihrer Emanzipation eröffnete, wenn auch nur gegen viele Widerstände.
Über Brigitte Studer
Brigitte Studer war Professorin für Geschichte des 19./20. Jahrhunderts an der Universität Bern. Sie lehrte auch an den Universitäten Genf, Zürich und Washington in St. Louis (USA) sowie an der EHESS (Paris). Ihr Buch «Frauenstimmrecht. Historische und rechtliche Entwicklungen 1848 – 1971 (mit Judith Wyttenbach)», wurde 2021 veröffentlicht.