Autor: Felix Frey, Dr. sc. ETH
Erstmals publiziert in der Fachzeitschrift «cadastre» (Dezember 2020)

Ein frühes Bekenntnis zum Bundesstaat:
die Dufourkarte von 1845

Die Topographische Karte der Schweiz (Dufourkarte) vermittelte eine unmissverständliche Botschaft. Ihr Kartenbild hob das Territorium der Eidgenossenschaft deutlich vom umliegenden Ausland ab, kantonale Grenzen waren hingegen nur bei genauem Hinsehen sichtbar. Damit betonte sie einen geeinten Bundesstaat bereits zu einer Zeit, als ein solcher noch gar nicht existierte.

Im Jahr 1883 öffnete in Zürich die erste Schweizerische Landesausstellung ihre Tore. Auch ein Berichterstatter der Allgemeinen Schweizerischen Militärzeitung besuchte das Grossereignis. Ein Exponat begeisterte den Betrachter ganz besonders: An der Landesausstellung war eine Zusammensetzung aller 25 Blätter der Topographischen Karte der Schweiz zu bewundern. Der Berichterstatter verbarg seine Faszination für das 1864 fertiggestellte Kartenwerk nicht. Er schrieb schwärmerisch: «Dies Ausstellungsobjekt ist die Perle der ganzen Ausstellung, es stellt in würdigster Weise die politische Einheit der Schweiz dar».

Landes- und Kantonsgrenzen in der Dufourkarte

Für den anonymen Berichterstatter war es 1883 eine Tatsache, dass die Schweiz über politische Einheit verfügte. In der Tat war das Land seit der Gründung des modernen Bundesstaates im Jahr 1848 zusammengewachsen, auch wenn politische Gräben und Spannungen weiterhin bestanden. Die Topographische Karte der Schweiz schien diese Entwicklung zu bestätigen. Das Kartenbild betonte die Schweiz als Gesamtstaat, während die Kantonsgrenzen nur bei genauem Hinschauen erkennbar waren. Die Nomenklatur der Karte kam sogar ganz ohne die Nennung der Kantone aus.

Nationale Grenzen waren in der Erstausgabe der Dufourkarte auch für ungeübte Kartenleserinnen und -leser sofort erkennbar. Das Schweizer Territorium war plastisch und detailliert herausgearbeitet, das Ausland wurde hingegen nur skizzenartig dargestellt. Die Schweiz schien sich wie eine Insel aus einem weissen Meer zu erheben. Dieser Effekt war überall dort besonders stark, wo die Grenzen der Eidgenossenschaft durch die gekonnte Reliefdarstellung der Berggebiete verliefen (vgl. Abb. 1 und 2).

Abb. 1
Abb. 1
Das Schweizer Territorium hebt sich deutlich von Savoyen (damals Sardinien) ab. (swisstopo Kartensammlung, LT TK 17, 1845, Auszug)
Abb. 2
Abb. 2
In der Bildmitte befindet sich das waadtländische Dappental. Das Kartenbild der Dufourkarte vermittelte zwar eine klare territoriale Abgrenzung, doch die staatliche Zugehörigkeit des Tals zwischen Frankreich und der Schweiz war bis 1862 umstritten (swisstopo Kartensammlung, LT TK 16, 1845, Auszug)

Das Kartenbild hob die politische Einheit der Schweiz unmissverständlich hervor. Doch in den 1830er und 1840er Jahren, in denen die Gestaltung der Dufourkarte ausgearbeitet wurde, existierte eine solche Einheit noch in keiner Weise.

Eine uneinige Schweiz

Als das Eidgenössische Topographische Bureau im Jahr 1845 die ersten zwei Blätter des Kartenwerks (XVI Genève, Lausanne; XVII, Vevey, Sion) veröffentlichte, befand sich die Schweiz in einer politischen Lage, für die «Einheit» die vielleicht am wenigsten passende Bezeichnung gewesen wäre. Die Schweizerische Eidgenossenschaft war zu diesem Zeitpunkt kein Bundesstaat, sondern ein Staatenbund. Die Souveränität lag in weiten Teilen bei den Kantonen, während die Tagsatzung als politische Klammer der Schweiz nur geringe exekutive und legislative Verfügungsgewalt kannte.

Die Frage, wie Kompetenzen zwischen kantonalen und eidgenössischen Einrichtungen aufzuteilen waren, stellte sich seit den frühen 1830er Jahren mit immer grösserer Dringlichkeit. Während die Vertreterinnen und Vertreter des Liberalismus einen starken, säkularen Bundesstaat anstrebten, setzte sich das religiös-konservative Lager für die Beibehaltung kantonaler Souveränität ein. Als Brennpunkt dieser Diskussion stellte sich das Bildungswesen heraus. Dessen Gestaltung wollten insbesondere die katholisch-konservativen Kantone der Innerschweiz nicht einem liberal-säkularen Bundesstaat überlassen.

Verschärfte Konflikte

In den zehn Jahren vor der Gründung des Bundesstaates im Jahr 1848 verschärfte sich der mit weltanschaulichen Fragen verwobene Verfassungskonflikt deutlich.
Zwischen 1839 und 1845 war es in den Kantonen Zürich, Aargau, Solothurn und Wallis zu Unruhen, Gewaltausbrüchen und Umsturzversuchen gekommen. Die politischen Vorzeichen waren dabei wechselhaft. Nicht immer verliefen sie eindeutig zwischen Protestanten und Katholiken: Während in Zürich 1839 die protestantisch-konservative Landbevölkerung gegen die ebenso protestantische, aber liberale Regierung des Kantons aufbegehrte, spaltete sich das Oberwallis 1839/40 unter katholisch-konservativer Führung für kurze Zeit gewaltsam vom freisinnig regierten Kanton ab. Als die luzernische Kantonsregierung 1844 den katholischen Jesuiten weitgehende Kompetenzen im Bildungswesen zusprach, zogen wiederum liberale Freischärler zweimal gegen die Innerschweizer Stadt – erfolglos.

Staatenbund oder Bundesstaat, säkulare oder religiöse Bildung, Industrialisierung oder Bewahrung traditioneller Wirtschaftsweisen: Zahlreiche weltanschauliche Fragen spalteten die Schweizer Bevölkerung in den 1840er Jahren und führten regelmässig zu gewaltsamen Auseinandersetzungen. In diesem unübersichtlichen und spannungsgeladenen Umfeld erschienen die zwei ersten Blätter der Dufourkarte.

Ein Kartenbild als Anspruch

Das Eidgenössische Topographische Bureau war eine der wenigen kantonsübergreifenden, eidgenössischen Institutionen. Sein Leiter und Directeur de la Carte, Guillaume Henri Dufour, war zugleich oberster Militär der Eidgenossenschaft (Oberstquartiermeister) und befürwortete einen liberalen Schweizer Bundesstaat. Gleichzeitig wusste er aber auch um die Notwendigkeit des politischen Kompromisses. So war es nicht zuletzt seiner gemässigten Kriegführung zu verdanken, dass sich der 1847 ausgetragene Sonderbundskrieg zwischen den Gegnern und Befürwortern eines modernen Bundesstaates zu keinem grösseren, verheerenden Bürgerkrieg entwickelte. Vielmehr wirkte Dufour an dem föderalen Kompromiss zwischen Kantonen und Bund mit, der die Schweiz bis heute prägt. Erst dieser Kompromiss ermöglichte es 1848, den Schweizer Bundesstaat ohne weiteres Blutvergiessen zu gründen.

Die Topographische Karte der Schweiz war weniger konziliant als Dufours Handeln. Ihr Kartenbild beschrieb 1845 keine politische Realität, sondern einen Anspruch: Anders als die fehlenden Kantonsnamen nahelegten, waren die Kantone nicht in der Bedeutungslosigkeit versunken. Auch war die Schweiz zu jenem Zeitpunkt zu keinem grossen Ganzen verschmolzen, wie die fast unsichtbaren Kantonsgrenzen und markanten Landesgrenzen des Kartenwerks suggerierten. Die Dufourkarte beschrieb keinen Ist-, sondern einen Soll-Zustand. Sie übermittelte die Aufforderung, eine Schweiz zu erschaffen, die dem Kartenbild entsprach – und nicht umgekehrt.

Der Berichterstatter der Landesausstellung von 1883 hatte Recht, wenn er in der Dufourkarte die «politische Einheit der Schweiz» dargestellt sah. 35 Jahre nach der Gründung des Bundesstaates wuchs das Land langsam zusammen, Routinen zwischen Bund, Kantonen und Gemeinden hatten sich entwickelt. Die tiefen weltanschaulichen Gräben, die sich in den 1840er Jahren in aller Deutlichkeit offenbart hatten, waren jedoch auch zum Zeitpunkt der Landesausstellung nicht aus der Welt geschafft: 1883 war die Topographische Karte der Schweiz Tatsachenbeschreibung und Vision zugleich.